17. Kapitel


Sprottes Mutter machte ihre Sache mit der Polizei ganz fabelhaft. Sagte, sie hätte nur kurz ein Kind weggebracht, das nach Hause gewollt hätte, aber jetzt wäre sie ja wieder da und ob die Herrn Polizisten noch auf eine Tasse Kaffee reinkommen wollten. Der große und der kleine Polizist lehnten dankend ab und fuhren zufrieden davon. Und Fred murmelte so was wie, dass man Sprotte um ihre Mutter glatt beneiden könnte. Der Meinung waren die anderen auch. Und Sprotte war so stolz, dass sie glatt hätte platzen können.


Dann überlegten sie alle, wie sich für vier Wilde Hühner, drei Pygmäen und Sprottes Mutter in Oma Slättbergs kleinem Haus ein Platz zum Schlafen finden ließ. Nach Hause konnte niemand, sonst wäre der ganze Schwindel ja aufgeflogen.

Schließlich schlief Sprotte mit ihrer Mutter in Oma Slättbergs großem Bett, Melanie und Trude teilten sich das Bett, in dem Sprotte sonst immer schlief, und Frieda schlief auf dem Sofa in der Küche - was sie wunderbar gemütlich fand. Die Jungs aber verbrachten die Nacht auf dem Dachboden, wo sie zusammen mit den Mädchen ein erstklassiges Riesenbett aus alten Teppichen, Häkelkissen und Decken bauten. Die Pygmäen mussten bei ihrer Bandenehre schwören, dass sie nicht in Oma Slättbergs Sachen herumspionieren würden. 

Aber als alles im Haus längst schlief, hörte Sprotte es über ihrem Kopf immer noch kichern und rumoren. Wenn die sich nun nicht an ihr Versprechen halten, dachte sie und überlegte besorgt, ob sie besser mal hochschlich und nachsah. Aber bevor sie auch nur ein Bein aus dem Bett bekam, war sie eingeschlafen.


Die Pygmäen hielten sich an ihr Versprechen. Zumindest sahen Oma Slättbergs Kisten und Kästen am nächsten Morgen unangetastet aus, als die Mädchen kamen, um die Jungs zu wecken. »Frühstück!«, brüllte Sprotte, so laut sie konnte, bevor sie mit den andern die Leiter hinaufstürmte. Drei völlig verschlafene Köpfe quälten sich von Oma Slättbergs Häkelkissen hoch.

»Ja, ja!«, murmelte Fred und machte ein verquollenes Auge auf. »Wie spät ist es denn?«

»Sechs Uhr!«, rief Melanie und zog ihm kurzerhand die Decke weg. »Sprottes Hühner sind schon längst auf den Beinen.« »Wir haben sie sogar schon gefüttert«, sagte Frieda und kitzelte Steve an den nackten Füßen. Kichernd versteckte er sich unter seiner Decke.

»Sechs Uhr?«, kreischte Torte. »Seid ihr verrückt geworden? Ich steh immer frühestens halb acht auf. Halb acht, klar?«

»Kannst du gerne machen«, sagte Sprotte. »Wenn du in meinen Klamotten zur Schule gehen willst.

« Entsetzt sah Torte sie an. »Wieso, sind unsere Sachen denn nicht trocken?«

Melanie kicherte. »Trocken schon«, sagte sie. »Aber steif  wie 'n Brett vor Dreck.«

»Ja, und bürsten hilft da auch nichts«, fügte Frieda hinzu. »Deshalb dachten wir, ihr wollt vielleicht noch mal nach Hause, euch umziehen. Aber wenn ihr lieber weiterschlafen wollt ...« Sie zuckte die Schultern.

»Ja, wenn sie lieber weiterschlafen wollen«, sagte Sprotte und zog Melanie und Frieda mit zur Leiter. »Dann sollen sie das ruhig, was?«

Kichernd stiegen die vier Mädchen die Leiter runter.

»Ist schon gut!«, brüllte Fred ihnen hinterher. »Wir kommen gleich!«

Und hastig zwängten sich die drei in die viel zu engen Hosen.


Nach dem Frühstück - das ziemlich laut und lustig wurde - verschwanden die drei Pygmäen schnell wie die Feuerwehr. Die Wilden Hühner übernahmen großzügigerweise - damit die Jungs noch zu passenden Hosen kamen - den Abwasch. Mit der Hilfe von Sprottes Mutter beseitigten sie wenigstens die gröbsten Spuren, die die sieben Kinder in Oma Slättbergs Haus hinterlassen hatten. Reichlich Arbeit war das - und so kamen die Wilden Hühner genau wie die Pygmäen erst kurz vor dem Klingeln auf den Schulhof gerast. 

Die Jungs waren rot wie Kirschtomaten, als sie ihre Fahrräder neben die der Mädchen stellten. 

»Geht ihr ruhig schon mal vor«, sagte Fred zu Sprotte und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. »Wir - ehm - wir kommen gleich nach.« 

»Ja, genau!«, sagte Torte.

Steve guckte die beiden erstaunt an. »Wieso? Ich denk, wir haben gestern Abend Frieden geschlossen?«, rief er.

»Ja, sicher!«, sagte Fred verlegen. »Aber deshalb müssen wir doch nicht alles zusammen machen, oder?«

»Was?« Frieda schnappte nach Luft. »Gerade haben wir noch zusammen gefrühstückt und jetzt fangt ihr schon wieder an mit dem Quatsch?«

»Lass die Blödmänner doch«, sagte Sprotte. »Die haben bloß Angst, dass ihre Kumpels über sie lachen, wenn sie mit den dummen Mädchen in die Klasse marschiert kommen. Schon klar. Kommt, wir gehen.«

Verächtlich kehrten die vier den Pygmäen den Rücken und gingen auf die Treppe zu.

»Vielleicht sollten wir ihren Freunden mal erzählen, wie sie uns gestern in die Falle gegangen sind«, sagte Melanie über die Schulter. »Dann hätten sie wenigstens richtig was zu lachen!«

»Das könnt ihr doch nicht machen!«, rief Torte ihnen hinterher.

Aber die Mädchen liefen schon die Treppe rauf. 

»Mensch, und ich reiß mir ein Bein aus für die gestern und verderb's mir fast mit meiner Mutter«, schimpfte Sprotte. »Ganz schön blöd von mir.« 

»He, Sprotte, warte doch mal!«, rief Fred. 

In der großen Pausenhalle holten sie die Mädchen ein. 

»Sei doch nicht gleich beleidigt«, sagte Fred, während er versuchte mit Sprottes langen Beinen Schritt zu halten. »Ich hab das doch nicht so gemeint.«

»Hast du doch«, sagte Sprotte. »Und jetzt hast du bloß Angst, dass wir erzählen, was gestern los war.«

»Stimmt überhaupt nicht!«, rief Fred empört.

Sie standen vor ihrer Klasse, die Mädchen auf der einen, die Jungs auf der andern Seite.

»Stimmt wohl!«, fauchte Sprotte und machte die Klassentür auf. »Ich geh jetzt rein. Du kannst ja vorsichtshalber noch 'n paar Minuten hier stehen bleiben.«

»Genau!«, sagte Melanie. Dann verschwanden die Wilden Hühner in der Klasse. Gerade als Frau Rose den Flur runterkam.

»O Gott, was ist euch denn über die Leber gelaufen?«, fragte sie, als sie die düsteren Gesichter der Jungs sah. 

»Hühner«, sagte Fred. »Jede Menge wilde Hühner.«

»Da ist schon wieder einer!«, flüsterte Frieda und schob Sprotte einen zusammengefalteten Zettel zu.

»Gib her«, brummte Sprotte.

»Willi ist immer noch nicht da«, flüsterte Frieda.

»Ist mir doch egal«, zischte Sprotte zurück und faltete den Zettel auseinander.

Frau Rose hatte Elisabeth, die Klassenbeste in Mathe, an die Tafel beordert. Frau Rose strahlte wie ein Honigkuchenpferd über so viel Mathe-Verstand. Und der Rest der Klasse hatte erst mal Ruhe.

»Lass doch auch mal sehen«, sagte Frieda und schielte über Sprottes Arm.

Zweites Friedensangeboht stand in Freds Krakelschrift oben auf dem Zettel. Da drunter waren drei Köpfe gemalt. Und darunter stand: Was macht ihr am Wochenende ? Wie wäre es mit einem Versöhnungsfest? Wir kaufen das Essen!! Erenwort!!!! Die Pygmäen »Ehrenwort ohne h. Au weia«, murmelte Frieda. 

Sprotte war das natürlich nicht aufgefallen. 

»Komm.« Frieda stieß sie an. »Wir schreiben zurück, ja?« 

»Erst müssen wir uns mit den andern beiden absprechen«, flüsterte Sprotte. Elisabeth hatte schon die halbe Tafel mit ihren sauberen kleinen Zahlen gefüllt. 

»Schick Melanie doch Freds Zettel und schreib drauf, dass sie nicken sollen, wenn sie einverstanden sind.« 

»Hm, na gut!«, sagte Sprotte, kritzelte die Nachricht unter die der Jungs und klopfte Paula auf die Schulter, die vor ihr saß.

»An Melanie!«, zischte sie ihr ins Ohr. Paula nickte widerwillig und beförderte Sprottes Zettel weiter. Aber leider ging Elisabeth gerade in dem Moment auf ihren Platz zurück und Frau Rose ließ ihren Blick über die Klasse schweifen.

»Mist!«, flüsterte Frieda.

Frau Rose war die berüchtigste Zetteljägerin der ganzen Schule und dieser Zettel entging ihren Adleraugen natürlich auch nicht.

»Oh!«, sagte sie und spitzte ihren roten Mund. »Was ist da denn wieder unterwegs? Zeig doch bitte mal her, Paula!«

Zerknirscht reichte Paula ihr den Zettel. 

»Ah, eine Einladung«, sagte Frau Rose. »Ich geb die Nachricht mal eben mündlich weiter, ja, Charlotte?« 

»Okay«, murmelte Sprotte und guckte angestrengt auf ihren vollgekritzelten Tisch.

»Also, Melanie und Trude, ihr sollt nicken, wenn ihr einverstanden seid, mit den Pygmäen ein Versöhnungsfest am Wochenende zu feiern. Für Essen sorgen die Herren. Hm. Ein Versöhnungsfest«, Frau Rose spitzte die Lippen, »das ist die netteste Nachricht, die ich jemals abgefangen habe. Und die erfreulichste. Na, nun nickt schon, ihr beiden.« 

Melanie und Trude grinsten - und nickten. 

Die ganze Klasse kicherte.

Die drei Pygmäen aber saßen mit scharlachroten Köpfen da und wussten nicht, wo sie hingucken sollten.

Der Rest der Stunde verging ziemlich ereignislos, abgesehen davon, dass Trude und Steve an die Tafel mussten. Aber zehn Minuten vor der Pause klopfte es an der Tür und Willi kam hereingeschlichen.

»Wie sieht der denn aus?«, flüsterte Frieda erschrocken.

»'tschuldigung, Frau Rose«, sagte Willi leise. »Aber mir ging's heute Morgen nicht gut. Meine Mutter hat Ihnen eine Entschuldigung geschrieben!« Mit gesenktem Kopf schob er der Lehrerin einen Briefumschlag aufs Pult. 

»Guck mich bitte mal an, Wilhelm«, sagte Frau Rose. »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert, hm?« 

Willis linkes Auge war blau und geschwollen und sein Gesicht sah völlig verweint aus.

Fred wurde weiß wie die Wand Torte riss erschrocken die Augen auf und Steves Unterlippe fing an zu zittern.

»Wilhelm!«, sagte Frau Rose. »Was ist mit deinem Gesicht passiert? Antworte mir bitte.«

Willi setzte sich auf seinen Platz und verbarg sein Auge mit der Hand. »Steht alles in dem Brief«, sagte er. »Ich bin vom Fahrrad gefallen.«

»Vom Fahrrad gefallen, ach so.« Frau Rose nickte. »Kommst du nach der Stunde bitte noch mal kurz zu mir, Willi? Ich möchte etwas mit dir besprechen.« 

In der Klasse war es totenstill.

»Wozu denn?«, fragte Willi. »Da gibt's nichts zu besprechen!« Seine Stimme klang aufgeregt. Die Hand hielt er immer noch gegen das Auge gepresst. »Fragen Sie doch die andern! Ich musste gestern Abend ganz schnell nach Hause und da bin ich eben hingeflogen. Kann doch wohl mal passieren, oder?«

»Ja, natürlich, Willi«, sagte Frau Rose. Sie war ein bisschen blass um die Nase. »Und du brauchst dich auch nicht so aufzuregen. Ich möchte mich nachher nur mal kurz mit dir unterhalten. Das ist alles.«

»Aber ich will mich nicht unterhalten.« Willis Gesicht sah plötzlich richtig wütend aus.

»Na gut.« Frau Rose zuckte die Schultern. »Dann nicht.« Und leise, fast unhörbar, fügte sie hinzu: »Dann kann ich dir aber auch nicht helfen.«

»Mir braucht auch keiner zu helfen!«, sagte Willi laut. 

»Also gut«, sagte Frau Rose und zog Sprottes und Freds Zettel aus der Jackentasche. »Hier. Das ist eine Einladung, die wohl auch für dich gilt. Du gehörst doch auch zu den Pygmäen, oder?«

Willi nickte überrascht und las den Zettel. 

»Offenbar schlagt ihr euch wenigstens nicht mehr gegenseitig die Köpfe ein«, sagte Frau Rose, rückte ihre Brille zurecht und ging zu ihrem Pult zurück. »Das ist ein Trost. Allerdings nur ein kleiner.«